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home · 2005 · Kienbaum

Das Prinzip "trotzdem"

25. 100 km Lauf Kienbaum/Grünheide
9. April 2005

100 km laufen, welch magische Zahl! Manche meinen, dafür müsse man nach Biel. Ich stelle mir meinen ersten Hunderter aber eher bei Tageslicht und auch flacher als Biel vor. Und stelle fest, da ist die Auswahl an möglichen Veranstaltungen gar nicht groß, wenn man nicht nach Dänemark, Holland, Lappland oder in die Mongolei reisen möchte.

Arnsberg, Chiemgau und Endingen am Kaiserstuhl scheiden "wegen Hügeln" gleich mal aus. Leipzig käme infrage. Allerdings, das findet mitten in den Schulsommerferien statt. Das ist nicht so günstig und könnte obendrein heiß werden.

Dann vielleicht lieber Kienbaum, Anfang April.

Kien wie? Östlich der Bundeshauptstadt  erstreckt sich sanft wellige Endmoränenlandschaft, sandige Böden, endlose Kiefernwälder, kleine Seen. Mittendrin das Dorf Kienbaum und am Rand desselben das gleichnamige Sportzentrum.  Nur 35 km von Berlin - in the middle of nowhere.

Die ehemalige Trainingsschule des DDR-Spitzensports, später auch im Westen bekannt für ihre Unterdruckkammer zum Simulieren von Höhentraining,  ist heute Bundesleistungszentrum und unter den eher irritierten als bewundernden Blicken der hier gerade trainierenden Sportler, Sportler auf deren Trainingsjacken schon mal lapidar “Deutschland” steht,  findet der 100 km Lauf statt.

Die Strecke beschreibt eine Acht. Durch ein Tor das Gelände verlassen, über eine kleine, vielfach geflickte Strasse, eine knappe Runde auf der 2.500 m Bitumenlaufbahn, noch ein Stück Straße, durch das Gelände der Anlage und dann das Ganze wieder von vorn. Jede Runde 5 Kilometer. Zwanzig mal.

Frisch zurück vom Skiurlaub habe ich plötzlich Schluckbeschwerden, mein Hals ist gerötet. Das kommt aber sehr unpassend! Tags drauf ist auch noch die Nase total zu, der Kopf wie mit Watte ausgestopft und am Dienstag verschwinde ich um 21 Uhr mit 38° im Bett. Ich bin mir sicher, den Hunderter kann ich vergessen.

Die darauffolgenden Tage geht es mir ganz langsam besser. Hm, das Flugticket ist lange gekauft, die Startgebühr ist bezahlt, ich möchte ungern zuhause bleiben. Vielleicht sollte ich auf die ebenfalls angebotenen 50 km umbuchen? Ein Besuch nebst "Blutspende" bei Dr. Jürgen M. in H. stellt am Donnerstag zumindest sicher, dass ein Wettkampfstart nicht sträflicher Leichtsinn wäre.

So fliege ich also ohne konkreten Plan am Freitag nach Berlin, reine Flugzeit 50 min, und weiter geht es von Schönefeld mit Regionalzug, S-Bahn und Bus nach Kienbaum, reine Fahrtzeit 90 min. ;-)

Teilnehmer des Laufs können die preisgünstige Verpflegung und Unterkunft in den frisch renovierten Mehrbettzimmern der Sportlerunterkunft nutzen und so wohnt und isst man in Sichtweite des Starts, der auch das Ziel ist. Bei den abendlichen Gesprächen mit anderen 100er Teilnehmern wird reichlich Ultra-Garn gesponnen. Und es vergeht mir endgültig die Lust auf “umbuchen”, es ging mir auch am Freitag deutlich besser, ach was, ich probiere das einfach am Samstag!

Kienbaum, das ist keiner dieser neumodischen Laufevents mit Wellnesscharakter. Im Bundesleistungszentrum ist ebensolche gefragt. Lag der Zielschluss im letzten Jahr noch bei 12:30 entnehme ich der neuen Ausschreibung, dieses Jahr sind es exakt 12 Stunden. In Biel waren 2004 gerade mal 25% der Frauen unter 12 Stunden. OK, die Nacht und Biel ist nicht flach. Trotzdem.

Obendrein wird in Kienbaum aus dem Rennen genommen, wer nach 11:15 nicht die letzte Runde angetreten hat. Das kann ja heiter werden! Nach der Faustformel "Marathon mal 3" sind 12 h ganz schön eng fur mich. Um den cut off von 11:15 zu erreichen, muss ich aber noch schneller laufen, als für 12 Stunden nötig wäre.

Ab 5:30 Uhr wird Frühstück angeboten und der Samstagmorgen zeigt sich zwar kühl aber viel freundlicher als die Wettervorhersage – “80% Regenwahrscheinlichkeit” - befürchten lies. Der Organisator verspricht, es soll trocken bleiben, vereinzelt käme die Sonne raus.

35 Manner und 10 Frauen stehen am Start, als um 7 Uhr der Schuss fällt.

Ein 7er Schnitt in Kombination von laufen und gehen ist meine Devise, in Eschollbrücken vor drei Wochen nochmal ausgiebig geübt und schon in der ersten Runde schaffe ich ihn nicht! Eine Woche skilaufen, eine Woche gar nicht laufen weil total erkältet, müsste ich nicht wie entfesselt davon schießen? Stattdessen finde ich es ganz schön mühsam. Doch die zweite Runde wird lockerer, langsam finde ich meinen Rhythmus.

Schon vor km 8 überrundet mich die Dreiergruppe an der Spitze. Wahnsinn, was die für ein Tempo draufhaben! Ich hingegen mache bald schon die Gehpausen nicht mehr nach dem Piepston meiner Uhr, sondern passe sie dem Gelände an, gegangen wird an den leicht ansteigenden Passagen und durch die Verpflegung sowieso.

Warmer Haferschleim als zweites Frühstück, ein Tee dazu, das bekommt gut. Trotzdem bleibt die Skepsis. Bin ich schon wieder fit genug? Nach 8 Runden spüre ich so langsam die Oberschenkel. Muss diese Quälerei heute eigentlich sein? Bloß um am Ende aus dem Wettkampf genommen zu werden?

Ich beschließe, ich kann ja bei 50 km aussteigen, das ist doch ehrenhaft genug. Schließlich war ich krank! Diese Runden sind beruhigend. Wenn es einem schlecht geht, kann man praktisch jederzeit aufhören. Diese Runden sind beunruhigend! Auch wenn man sich nur schlecht fühlt, kann man praktisch jederzeit aufhören.

Doch 10 km später geht es mir viel besser. Die schwarzen Gedanken sind weg. Und ich finde die Eigendynamik dieser langen Läufe mal wieder faszinierend. Diese Löcher, in die man hineinläuft und aus denen man magischerweise auch wieder hinausläuft. Phasen der Konzentration auf die Details der Strecke wechseln ab mit Phasen der totalen Orientierung nach innen.

Die Runden sind praktisch. Auf einer Bank nach dem Verpflegungsstand kann man Ausrüstungsgegenstände ablegen oder auch wieder aufnehmen. Die Runden sind nett. Immer wieder kommt jemand von hinten angelaufen, den ich kenne. Ein kurzer Gruß, aufmunternde Worte: "Mach dir keinen Kopf. Bei so langsamen Läufen ist eine Erkältung kein Problem." Danke, Heike!

Zwanzigmal die selbe Runde, ob das nicht langweilig sei? Hm, hat sich denn samstags beim Lauftreff schon mal jemand beschwert, dass allwöchentlich die selbe Runde gelaufen wird? ;-)

60 km. Die  Unlust ist wieder da. Und auch die Zweifel, ob das heute denn überhaupt gut gehen kann. Doch außer den Zweifeln geht es mir sehr ordentlich. So gute Bedingungen wie heute, kühl und trocken, dazu die ganz leicht gewellte Strecke, sowas finde ich sicher so schnell nicht mehr. Eigentlich wäre ich blöd, aufzuhören. Außerdem weiß ich, dass mindestens drei andere heute auch ihren ersten Hunderter laufen, zwei andere sind auf bestem Kurs zu einer neuen persönlichen Bestzeit. Und dann soll ich heute abend zwischen lauter strahlenden Gesichtern sitzen und habe nach 60 km aufgehört? Wegen äh Unlust?

Auf dem Weg zur 65 überrunden mich dann mal wieder einige Leute, die ich kenne. Die sind unterwegs Richtung 85 und fast alle nicht mehr besonders gut drauf. Carmen führt bei den Frauen und sie hat noch Laune und Luft für ein fröhliches “Hallo Ute!” Gabor dagegen, der Ungar mit dem ich mich gestern abend unterhalten habe und der außer einem einzigen Marathon keine Langstreckenerfahrung hat, nimmt den Ohrstöpsel seines mp3 -Players heraus, schaut mich gequält an und sagt nur "Es geht mir schlecht!" Georg findet, jetzt werde es haarig und Michael schnauft vernehmlich, er läuft eindeutig "voll auf Fett". Ich schaue mir das Elend an und weiß, dieser Punkt wird für mich auch noch kommen.

Und bei 70 ist dann mein Tiefpunkt da. Ich bin langsamer geworden, zu langsam? Der Trainer des SC Charlottenburg, der nur durch Begleitung seiner "Schäfchen" an diesem Tag 40 km laufen wird, beruhigt mich und versichert mir, wenn ich so gleichmässig laufe, nähmen die mich nicht raus. Soll ich ihm glauben?

Nach dieser Runde treffe ich bei der Verpflegung Stefan, den webmaster der Deutschen Ultra Vereinigung. Er hat sein ambitioniertes Ziel "unter 8" erreicht. Aber er sieht in diesem Moment nicht glücklich aus, er sieht einfach nur total ausgepowert aus.

Sehr ruhig wird  es auf der Strecke. Viele sind schon angekommen, der um 9 Uhr gestartete 50 km-Lauf ist längst zu Ende. Später erfahre ich noch einen Grund für die Ruhe. Von den 35 gestarteten Männern sind 13 ausgestiegen, darunter der Führende! Ich mache kaum noch Gehpausen. Das Wiederanlaufen kostet mehr Kraft als die Gehpause bringt.


km 80

Km 80, Tunnelblick.

Michael, längst im Ziel, rechnet mir vor, dass ich gar nicht so weit vom Soll entfernt bin. Nur noch lachhafte vier Runden.  Dass vier Runden noch 20 km sind, ist mir schon klar. Aber das drängt sich in meinem Kopf nicht in den Vordergrund. Nur die zurückgelegten Kilometer sind mir im Bewusstsein. Das, was vor mir liegt, sind nur Runden. Trotzdem kann - oder will?? - ich nicht verhindern, dass ich noch mehr nachlasse. Und ich finde die Situation völlig irreal. Ich kann es selbst nicht glauben, aber das wird heute anscheinend doch mein erster Hunderter!

Bei km 90 ist klar, ich schaffe den cut off von 11:15 nicht. Doch das ist mir egal. Dann gebe ich halt meine Startnummer ab und laufe mich noch eine Runde aus! Die werden mich ja wohl nicht festbinden.

Da ich die Zeit eh nicht schaffen werde, genehmige ich mir eine Runde gehen. Denn jeder Laufschritt geht inzwischen durch Mark und Bein. Die Streckenpostin guckt bedenklich auf ihre Uhr. Ich sage ihr, ich komme auf jeden Fall nochmal, wegen mir muss sie aber hier nicht bleiben. “Wenn du durchhältst, halt ich auch durch!” entgegnet sie freundlich. Wie nett!

95 km. 11:35 sind rum, als ich die Runde beende. Doch keiner will meine Startnummer, der Sprecher kündigt dem praktisch nicht mehr vorhandenen, eh nie zahlreichen, Publikum an, dass ich nun in meine letzte Runde gehe. Die anderen sind längst alle beim Abendessen. Denn, ach ja, dies ist ein Bundesleistungszentrum, Abendessen gibt es nur bis halb acht.

Letzte Runde! Unglaublich wie der Gedanke  beflügelt. An der Verpflegung der 15. Becher Cola. Mindestens. Den Lauf gibt es mit einer kleinen Unterbrechung seit 1977. Wie haben die sich eigentlich zu DDR-Zeiten über die Runden gehangelt? Mit Club-Cola? Den von mir vermuteten damaligen Mangel an Bananen finde ich nicht so schlimm. Die esse ich eigentlich nur im Müsli gern. Beim laufen lieber Haferschleim!

Ein Blick auf die Uhr sagt mir, unter 12:15 ist noch drin. Das weckt meinen Ehrgeiz, ich laufe tatsächlich nochmal die ganze Runde. Hinter mir sammeln die Helfer Markierungen und Kilometerschilder ein.

Ein letztes mal entlang der Landstraße, vorbei an der Bushaltestelle, an der ich gestern angekommen bin. Ein letztes mal die lange Straße von der Einfahrt bis nach hinten zu Unterkünften und Speisesaal. Als ich um die Ecke biege, schreckt der Zeitnehmer hoch. Ich  habe 12:12:53 auf der Uhr. “Fast wäre es ne richtige Schnapszahl geworden”, sagt der Offizielle. Dann erscheint der Organisator für ein Foto. Genauer gesagt kommt er aus seinem zum Büro umfunktionierten Seminarraum, 10 m Luftlinie vom Zielstrich, angerannt. Sicher ist er froh, auch die Letzte seiner Schar im Ziel zu haben.

Ziel

Per Polaroid dokumentiert: Die Letzte ist im Ziel! Da strahlt auch der Orgachef.

Viel Zeit zum verschnaufen und duschen bleibt nicht, dann ist auch schon Siegerehrung. Und auch ich kriege eine Urkunde. Zwar wurden mir darauf nochmal 6 Minuten draufgeschlagen, aber angesichts der Tatsache, dass ich gewertet werde, obwohl ich “eigentlich” zu langsam war, ist mir das auch egal. Fast. ;-)

Georg wirft später noch eine interessante Frage auf. Ob ich bei längerem Zielschluss wohl langsamer gewesen wäre? Hm, möglich. Vielleicht wäre ich dann aber nicht “zu schnell” gestartet, hätte nicht so nachgelassen und  wäre insgesamt sogar schneller gewesen? Das rauszufinden, bleibt mir eigentlich nur eine Möglichkeit: Ausprobieren! Leipzig zum Beispiel hat einen Zielschluss von 13 Stunden.
 
  © 2005 · Ute Pfaff · Emailemail senden