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home · 2004 · Biel Nachtmarathon

Mistress of Distress

46. Bieler Lauftage 
1. Nachtmarathon
11./12. Juni 2004

Die "Nacht der Nächte" ist dieses Jahr die Nacht vom 11. auf den 12. Juni. Hmm, dieses Jahr wird zum ersten mal auch ein Nachtmarathon angeboten. Wenigstens ein langer Trainingslauf zwischen Rennsteig und dem Gmünder 12h Lauf wäre sicher nicht schlecht. Und meine Schwester, die in der Schweiz lebt, hat am 12. Juni Geburtstag. Und überhaupt...

11. Juni, kurz vor 22 Uhr stehe ich 20 m vor der Startlinie in Biel. Über 2.000 Läufer haben sich aufgestellt. Eine Kette von Bieler Eishockeyspielern in voller Montur verhindert einen Fehlstart, Viktor Röthlin als offizieller Starter lässt einen sehr lauten Schuss knallen und schon geht’s los.

Für die 100er. Ich gehe erst mal zurück in die Eishalle, denn der Nachtmarathon wird erst um 22 Uhr 30 gestartet. Zwar haben die Regengüsse geendet und ein fast sternenklarer Himmel verspricht eine angenehme Nacht, aber es ist doch recht frisch draußen.

Kurz vor 22 Uhr 30 versammelt sich ein kleines Häuflein Läufer hinter der Startlinie. Irgendwer lässt einen sehr lauten Schuss knallen und jetzt darf auch ich. Hm, die Vernunft gebot mir, diesen Marathon als Training zu sehen und ein entsprechendes Tempo zu wählen. 6:30 – 6:40 also. Und so recht nach Rennen war mir selbst kurz vor dem Lauf nicht zumute. Doch jetzt brennt irgendeine Sicherung durch. 6:40, pfffff... Ein 6er Schnitt, unter 4:15, sollte das nicht drin sein? Km 1, die Uhr spricht 6:03. Na also!

Es geht erst mal durch Biel, auf langen Straßen in die Innenstadt. Nach 3,5 km schon eine Verpflegungsstelle. Vor dem Start war mir kühl doch jetzt finde ich es schon recht warm, ein Becher Wasser kommt gelegen. Im Zentrum von Biel ist Partystimmung, überall Kneipengänger, die die Läufer anfeuern. Dann eine Weiche, während die 100er hier abbogen, müssen wir geradeaus.

Der Nachtmarathon verläuft auf der Strecke des 100ers, damit das Ziel in Oberramsern, 38,5 km für die lange Strecke, nach 42,2 km erreicht wird, gibt’s für Nachtmarathonis eine Zusatzschleife durch Biel. Also wieder Richtung Eisstadion, dann wieder auf den nun schon bekannten Straßen zurück in die Innenstadt. Von hinten rennen welche wie der Wind vorbei. Ah, die Staffelläufer, die eine halbe Stunde nach uns gestartet sind. Nochmal den Verpflegungspunkt passiert, ein weiterer Becher Wasser, dieses mal dürfen auch wir abbiegen und verlassen langsam die Stadt.

Die Verpflegungspunkte sind nicht gerade dicht gesät, das am Anfang war eher die Ausnahme und ich überlege, ob’s wohl klüger gewesen wäre, zu Iso zu greifen. Km 10, 1:01, es geht durch Vororte bergauf, am Wegesrand immer noch vereinzelte Zuschauer, von hinten immer noch Staffelläufer, langsam wird die Beleuchtung spärlicher.

Wie gut wohl die Strecke markiert ist? Noch sind dauernd Leute um mich rum aber das kann sich ja ändern. Ich entdecke kleine Pfeile am Wegesrand. Nun ja... Doch als wir dann auf den Feldern sind, sind diese Pfeile mit blitzenden Stableuchten markiert und an besonders schwierigen Punkten stehen Helfer und winken uns mit Leuchtstäben die Richtung. Ich hole Marschierer ein, Teilnehmer des Militärmarsches oder wandernde 100er? Bei 22 h Zielschluss ist alles möglich.

Bei km 15 stelle ich fest, dass ich ein wenig langsamer geworden bin, 33 min. für die letzten 5 km. Es geht durch die Felder und immer wieder durch kleine Örtchen, die selbst im Dunkel blitzsauber und gepflegt aussehen und ganz eindeutig *schnupper* landwirtschaftlich gepägt sind. In den Ortschaften haben die Kneipen offen oder jemand hat ein Partyzelt aufgestellt, die Anwohner machen hier ihr eigenes Fest.

Km 20, Aarberg kommt schon in Sicht. 32 min. für die letzten 5 km. Auf der überdeckten Holzbrücke lauert ein Fotograf, dann geht’s in die Innenstadt, ein gepflasterter Platz mit malerischen Häuserreihen links und rechts – Städtebau aus dem Bilderbuch. Ich fühle mich dagegen nicht so bilderbuchartig. Ein Marathon sollte sich bei km 21 locker anfühlen, ein Trainingslauf sowieso. Locker ist mir aber gar nicht zumute. Oh oh...

Schwupps sind wir wieder aus Aarberg draußen, ich laufe ein ganzes Stück zusammen mit einer Schweizerin. Jetzt sind wir eindeutig auf den Schwanz der 100er aufgelaufen, schon tauchen vereinzelte Läufer mit Radbegleitung auf. Wobei die Läufer eher gehen ebenso wie die Jungs vom Militär in ihren Tarnanzügen.

Ein Waldstück, es wird stockdunkel. Die Schweizerin hat keine Lampe und ich habe meine Stirnleuchte einem 100er geliehen, hies es doch allenthalben, für das erste Stück sei die eigentlich überflüssig. Wir spähen also gemeinsam aus, damit wir keinen anrempeln und rufen uns zu "Da vorne ist einer in der Mitte!" "Ich sehe ihn und davor sind noch zwei!" Die Schweizerin ist schon den 100er gelaufen, sie meint, das Stück sei nicht lang. Tatsächlich stehen auch hier immer wieder die blinkenden Leuchten und andere Läufer haben Lampen, wir kommen durch ohne Unfälle.

In Lyss dann wieder Publikum, wir überholen Marschierer und ernten von den Zuschauern ein anerkennendes "Di Fraue säggle!" Doch dann ist meine Begleiterin am Ende, wir gehen gemeinsam einen Anstieg hoch, teilen einen von Zuschauern ausgeteilten Becher Wasser, doch als ich wieder ein bisschen Tempo aufnehme, hält sie leider nicht mehr mit.

Km 25, die letzten 5 km waren mit 34 min. etwas langsamer, ich habe nur noch schwarze Gedanken in meinem Kopf. Ich ärgere mich über mein Anfangstempo, ich fluche, weil die Verpflegungsstellen so weit auseinander sind, die Zunge klebt mir am Gaumen und die gehenden Ultras rauben mir die Moral. Ich gehe die Anstiege und komme danach nur mühsam wieder in Gang. Ich frage mich, was los ist. Ich atme nicht schwer, mein Puls ist lächerlich niedrig, ich bin nicht müde und doch sind meine Füße schwer wie Blei. Und ich habe gar keine Lust mehr, mich anzustrengen, meine Motivation geht unter Null. Und überhaupt, oh je, verderbe ich mir womöglich heute Nacht den Rest der Laufsaison?

Wieder ein Waldstück. Diesmal muss ich alleine Ausschau halten. Und immer schön die Bleifüße heben, sonst leg ich mich noch hin. Ich überhole im Dunkel ein paar Gestalten, vereinzelt blinzelt ein Fahrradrücklicht. Dann nach schier unendlicher Strecke ein Stück weiter vorn richtig Licht. Eine Verpflegungsstation? Ja, bei einem Gehöft ist’s taghell. Ich trinke gierig drei Becher Iso, hier gibt es auch Riegel und Geltütchen. Ich nehme eine Tüte Sponser Liquid Energy, denke, vielleicht wird mir von dem Zeug gleich übel, doch das ist mir jetzt auch egal, rein damit! Es schmeckt einfach nur süß, gar nicht schlecht, besser als der bemühte Fruchtgeschmack der Gels, die ich kenne. Der "Kunsthonig" klebt an meinen Fingern, ich schlecke sie sauber ab, bevor ich meine Uhr wieder anfasse.

Km 30. Ach du Schande, 40 Minuten habe ich für die letzten 5 km gebraucht! Ich überschlage, wenn ich so weiter mache, brauche ich ja 5 Stunden! Nein, so kann es wirklich nicht weiter gehen. Schließlich ist das hier kein 6h Lauf, Oberramsern kommt nur näher, wenn ich mich bewege. Ist es die Flüssigenergie? Oder mein innerlicher "pep talk"? Was auch immer, ich ziehe mich langsam wieder aus dem Sumpf.

Es geht jetzt über eine Landstraße, die 100er, die ich überhole, gehen meist nicht sondern ziehen im Zuckeltrab dahin, ich bin wieder besser drauf. Ich habe kein Gefühl mehr für’s Tempo aber ich finde es richtig schön auf dieser dunklen Straße. Es ist so still, man hört die Grillen zirpen. Ich fühle mich hellwach, alleine und doch nicht einsam, ab und zu ein Mensch im Dunkel, vorbei und weiter. Jetzt laufen meine Beine von allein, ich freue mich an der Nacht. An einer weiteren Verpflegungssation, wohl der letzten vor Oberramsern, gibt es Cola. Herrlich, mehr brauche ich jetzt nicht. Das km 35 Schild ist mir entgangen aber seit dem 30er Schild der 100er ist es schon ein Stück, viel mehr als 7 km können es jetzt nicht mehr sein. Das letzte Stück ist trotz beginnenden Regens ein Genuss.

In Oberramsern liegen Matten auf der Straße, eine Uhr zeigt 4:44:32. Das Ziel? Ich frage einen Helfer. Ja, das Ziel! Oh, unspektakulärer geht’s wohl kaum. :-)

Ich trinke einen Becher und ziehe meine Jacke, die ins Ziel transportiert wurde, über. Und mache mir demütig ;-) ein wenig Gedanken. Über meine Tempogestaltung, die Schwächephase zwischendurch und über, ähem, die Regeneration nach einem Ultra wie dem Rennsteiglauf.

 
  © 2005 · Ute Pfaff · Emailemail senden